„Baden-Baden hat seine NS-Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet“

20Dezember
2022

Interview zum Jahresausklang mit einem Mann, der viel vorhat: Prof. Dr. Heinrich Liesen, Stadtrat der FBB, hat viele Themen auf der Agenda für das Jahr 2023. Ein Punkt, der ihm am Herzen liegt: Die Stadt muss ihre Nazi-Vergangenheit aufarbeiten.

Herr Prof. Dr. Liesen, mit welchem städtepolitischen Thema und mit welchem Gefühl schließen Sie das Jahr ab?

Heinrich Liesen: „Die Stadt hat 2022 große Chancen vertan. Zwei Beispiele: 2021 erhielt Baden-Baden von der UNESCO den Status des Weltkulturerbes. Was hat die Verwaltung 2022 daraus für die Stadt gemacht? Nichts! Außer: Sie hat neue Verwaltungsstrukturen in diesem Bereich geschaffen und die zehn Partnerstädte besucht. Sie hat aber kein Management- und Marketingkonzept entwickelt, etwa gegen den galoppierenden Leerstand der Geschäfte. Dieser ist ein Zeichen für das Sterben der Stadt. Die Verwaltung hat keine kreativen Ideen produziert und umgesetzt, um die Bürger mitzunehmen, das Weltkulturerbe zu leben, weiterzuentwickeln, auch für die Bürger der Ortschaften.

Zweiter Punkt: Das Baudezernat hat immer noch nicht verstanden, wie schmerzhaft der Verlust des Neuen Schlosses für traditionsbewusste Baden-Badener ist. Der 1. Bürgermeister Alexander Uhlig blockiert die Umsetzung der Aufhebung des Bebauungsplans. Er nimmt Frau Al-Hassawi, die kuwaitische Besitzerin, nicht in die Pflicht, für den Erhalt des Neuen Schlosses zu investieren. Das Neue Schloss verfällt auch im Innern zur Ruine, wie der Bauausschuss jüngst feststellen musste. Nach der Abwahl von OB Mergen, die acht Jahre lang nichts gegen diese Entwicklung unternommen hat, wäre jetzt Handeln möglich, ja, dringend notwendig!“

Welches Thema wollen Sie im neuen Jahr zuerst anpacken?

Heinrich Liesen: „Die Grenke-Stiftung hat bereits vor einem Jahr der Stadt das Museum LA8 plus die Tagungsräume mietfrei als Weltkulturerbe-Besucherzentrum für die Bürger und Gäste angeboten. Und wollte darüber hinaus die Investitionen tragen für die attraktive Gestaltung des Zentrums. Auch hier ist von Seiten der Stadt nichts passiert. Da das Welterbe mit einem solchen Besucherzentrum und einer entsprechenden Marketingstrategie eine große Chance für die Wiederbelebung der Stadt (z.B. Abbau der Geschäfts-Leerstände) bedeuten kann, werde ich versuchen, Unterstützer zu finden und zusammenzuführen, um diese Chance zu nutzen.“

Welches politische Thema soll 2023 ihr Leitmotiv sein?

Heinrich Liesen: „Baden-Baden hat seine NS-Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet. Das muss sich ändern.
Drei Beispiele:

Erstens: Nach dem 2. Weltkrieg hat die Stadt den SS-KZ-Arzt Aribert Heim, der Hunderttausende Menschen qualvoll umgebracht hat, aufgenommen und bis zu seiner Flucht in die 1960-er Jahre geschützt.

Zweitens: Die Zerstörung der Baden-Badener Synagoge und die Ermordung der angesehenen jüdischen Bürger durch die lokale SS war unfassbar grausam. Der Verkauf des Synagogen-Grundstücks an einen ehemaligen NS-KZ-Arzt führt heute noch zur Blockade des Neubaus der Synagoge an dem alten Standort. Die Stadt lehnte unter der OB Mergen jede Vermittlung zur Ehefrau des KZ-Arztes, der aktuellen Besitzerin des Synagogen-Grundstücks, ab und bot kein alternatives Grundstück in der Stadt an. Im Gemeinderat wurde das Thema nicht behandelt.

3. Carl Flesch war eine weltweit geschätzte Koryphäe in der Violinpädagogik. Er bildete ab 1928 zahlreiche hochtalentierte Nachwuchsmusiker aus aller Welt in seiner Sommerakademie in Baden-Baden aus. Er war Jude. 1934 wurde es zu gefährlich für ihn und seine Familie. Sie flohen nach England. 1982 ließ die Philharmonie Baden-Baden unter ihren Chefdirigenten Prof. Werner Stiefel die Sommerakademie als Carl-Flesch-Akademie wiederaufleben. Sie entwickelte sich zu einer einzigartigen, international anerkannten Kaderschmiede für hochbegabte Geigen-, Viola, Cello- und Kontrabass-Talente. Sie stellt heute ein weltweit geschätztes Alleinstellungsmerkmal für Baden-Baden dar. Ein Beispiel: Über 30 ihrer Absolventen spielen bei den Berliner Symphonikern. Die Stadt Baden-Baden unterstützte diese Sommerakademie bis ins vergangene Jahr mit 100.000 Euro pro Jahr. Dieses Engagement sollte gestrichen werden: ,Baden-Baden brauche das nicht. Und Carl Flesch habe ja nicht einmal eine offizielle, städtische Akademie betrieben‘, hieß es. Vielleicht wusste man nicht, dass Carl Flesch trotz aller Unterstützung, z.B. von Herrn Furtwängler, als Jude keine Chance hatte, eine solche aufzubauen. Oder einfach, weil er Jude war, wollte man die Erinnerung an ihn nicht. Jetzt kämpft die Carl-Flesch-Akademie mit einer deutlich reduzierten Unterstützung ums Überleben.“

Welche Themen stehen weiterhin für 2023 auf Ihrer politischen Agenda?

Heinrich Liesen: „Themen, die für eine erfolgreiche Zukunft Baden-Badens wichtig sein werden, werde ich dann ins Bewusstsein bringen, wenn sie eine Chance haben, gehört zu werden.

Das sind:

  • Eine konstruktive, sich gegenseitig unterstützende Zusammenarbeit der Stadt mit der Bäder- und Kur-Verwaltung
  • Die verlorengegangene Bäderkultur wiederzubeleben. Sie attraktiv vor allem für junge Menschen zu machen
  • Die auch nach 50 Jahren nicht gelungene Integration der Ortschaften voranzutreiben
  • Einen Campus anzuregen (zu planen und zu bauen), auf dem junge Familien und Berufstätige arbeiten, leben, einkaufen, kommunizieren können.“

Ein Gedankenspiel: Wir schreiben das Jahr 2030. Wo steht Baden-Baden?

Heinrich Liesen: „Wenn die Führungskräfte der Stadt sich nicht besinnen, dass sie der Stadt und ihren Bürgern trotz aller Verwaltungsvorschriften vor allem dienen müssen, und wenn der kreative Anstoß für die Entwicklung der Stadt zum Wohlfühlen der hier Lebenden und der Gäste von visionären kompetenten Bürgern nicht zugelassen wird, dann wird die Stadt Baden-Baden trotz ihrer wunderbaren Lage, ihrer Thermen und Kulturzentren 2030 auf dem Wege sein zu einer bedeutungslosen Kleinstadt.“

Foto: Ben Becher