„Auf dem Höhepunkt der Pandemie hatte man den Eindruck, dass Europa nicht existiert“

26Juni
2020

Sie lebt im Norden Straßburgs und hat lange Zeit in Deutschland gearbeitet: Martine Noé-Rudolf, Übersetzerin und Rennpferd-Expertin, spricht im Interview darüber, wie man in Frankreich die Corona-Krise und das deutsch-französische Verhältnis erlebt hat.

Frau Noé-Rudolf, Sie leben bei Straßburg, überqueren regelmäßig die Grenze. Wie war das für Sie, in Zeiten der Grenzschließung nicht mehr nach Deutschland fahren zu können?

Martine Noé-Rudolf: „Ganz am Anfang war mir das gar nicht so bewusst, weil wir ja sowieso zu Hause bleiben mussten. Als wir dann wieder rausgehen konnten, aber nur bis zu 100 Kilometer von zu Hause, hatte ich den Eindruck, mir fehlt ein Teil von meinem Lebensraum. Die deutsche Seite vom Rhein gehört für mich zu meiner Heimat. Die deutsche Kultur und Sprache sind für mich eine persönliche Bereicherung.“

Nun sind die Grenzen wieder auf. Was werden Sie zuerst machen, wenn Sie nach Deutschland fahren?

Martine Noé-Rudolf: „Als erstes gehe ich nach Offenburg zum Einkaufen und Mittagessen. Dann besuche ich Freunde in Lahr.“

Was hat Ihnen gefehlt, aus Deutschland?

Martine Noé-Rudolf: „Der schöne Schwarzwald und die bezaubernden Dörfer. Ich gehe gern einkaufen in Deutschland, das war aber nicht das Wichtigste.“

In der Anfangszeit von Corona gab es im Grenzraum mitunter Anfeindungen deutscher Bürger gegenüber Franzosen, die nach Deutschland kamen. Haben Sie solche Fälle mitbekommen?

Martine Noé-Rudolf: „Ich habe von diesen Anfeindungen gehört. Es gibt allerdings keinen Fall in meinem Bekanntenkreis. Diese Fälle sind aus meiner Sicht nur Einzelfälle: Das waren Leute, die aus reiner Panik sich schlecht benommen haben. Es ist aber unglaublich, wie schnell die Grenzen sich wieder schließen können und wie manche Leute reagieren. Wenn man überlegt, wie viele Jahrzehnte es gedauert hat, um endlich zu offenen Grenzen zu kommen – und innerhalb von ein paar Tagen war dann alles wieder zu.“

Wie empfinden Sie die deutsch-französischen Beziehungen?

Martine Noé-Rudolf: „Als langjährige Grenzgängerin habe ich mit der Zeit gesehen, wie sich diese Beziehungen immer weiter verbessert haben. Alles ist viel einfacher geworden. Bei uns an der Grenze macht Europa richtig Sinn.“

Was könnte man aus Ihrer Sicht noch verbessern, damit die Völker auch in Krisenzeiten zueinander halten?

Martine Noé-Rudolf: „Man sollte auf jeden Fall nicht gleich die Grenzen schließen, denn das ist ein sehr schlechtes Signal. Das gibt den Eindruck, dass die Leute auf dem anderen Ufer des Rheines eine Gefahr bilden. Die Staaten sollten auch zusammenhalten und viel besser kommunizieren. Während dieser Pandemie hatte man den Eindruck, dass Europa nicht existiert.“

Welchen Ort schätzen Sie auf deutscher Seite vor allem?

Martine Noé-Rudolf: „Ich mag es, mit dem Cabrio die Schwarzwaldhochstraße zu erkunden und zu wandern.“

Und welchen Ort legen Sie uns Baden-Badenern auf französischer Seite ans Herz?

Martine Noé-Rudolf: „Die Burg Fleckenstein mag ich ganz besonders. Die Aussicht von ganz oben auf die Vogesen ist einfach herrlich. Ein wunderschöner Ort! Ein tolles Gefühl von Freiheit, die uns ja so gefehlt hat in den letzten drei Monaten.“

Foto: FBB-Archiv