„Baden-Baden gestalten und nicht verwalten: Das muss das Motto der Zukunft sein!“

11Februar
2020

Vergangene Woche berichteten wir über den Antrag der FBB, den Verkehr im Zentrum zu beruhigen. Der geistige Vater dieser Idee ist Diplom-Ingenieur Mathias Welle, Stadtbaumeister und Amtsleiter in Schwetzingen, Bürger Baden-Badens und einer der kreativen Köpfe der FBB. Im Interview schildert er, wie er es geschafft hat, auch gegen Widerstände den Schlossplatz in Schwetzingen bürgerfreundlich umzugestalten.

Herr Welle, Sie haben viele Jahre als Architekt in Paris gearbeitet und als Stadtbaumeister und Amtsleiter die Erneuerung des Schlossplatzes in Schwetzingen verantwortet, mit einem völlig neuen Konzept. Was war die Leit-Idee?

Mathias Welle: „Der Schlossplatz mit seinen 10.000 Quadratmeter Größe war und ist das Herzstück der Stadt. Jahrzehntelang war er durch die Straßenführung in drei Stücke geteilt und wurde somit vom Fahrzeugverkehr mit 12.000 bis 13.000 Pkw und Bussen täglich beherrscht und somit durch den Verkehr fremdbestimmt.

Es galt nun bei der Neugestaltung genau diese verkehrliche Dominanz aufzuheben und den Menschen und Bürgern ihren Schlossplatz und ihre Stadt wieder zurückzugeben. Es ging darum, einem Wohlfühlort für alle Menschen zu erschaffen, einen Ort, wo sie ohne jegliche Angst im öffentlichen Raum zuhause sein können, flanieren, verweilen, anderen Menschen begegnen, einfach leben können und wo die motorisierten Verkehre nur ,Gäste’ sind. Dominieren sollte der Mensch, denn der Mensch ist das Maß aller Dinge, nicht der Verkehr: Das muss der wichtigste Punkt in der Stadtentwicklung sein! Und das Miteinander, nicht das Gegeneinander ist der Schlüssel zum Erfolg. Planungsbeginn war 2008 – eingeweiht haben wir den Schlossplatz 2011. Durch dieses ,shared space’-Konzept wird die Stadt städtebaulich aufgewertet, sie erhält ihr historisches Bild zurück und genügt dabei gleichzeitig den Anforderung der Menschen in der Moderne.

Hinzu kommt, dass die ,shared space’-Flächen der Inklusion Rechnung tragen: Sie haben keine Bürgersteige, keine Kanten, keine Erhöhungen, keine Zebrastreifen oder Ampeln, sie sind für alle ohne Hindernisse. Das ist natürlich auch für Menschen mit Behinderungen, Blinde oder Senioren ein sehr großer Pluspunkt. Übrigens: Auf ,shared space’-Flächen entfallen in der Regel rund 90 Prozent der üblichen Verkehrsschilder, weil durch das Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme das Funktionieren des Miteinanders reibungslos klappt, so wie in Schwetzingen.“

Gab es Widerstände gegen dieses Projekt?

Mathias Welle: „Ja, es gab teilweise erhebliche Widerstände, sowohl seitens der übergeordneten Behörden und auch seitens der Bevölkerung. Diese Widerstände haben sich jedoch nicht nur gelegt – im Gegenteil – das Schlossplatzkonzept ist inzwischen landesweites und bundesweites Vorbild geworden, nicht zuletzt deshalb, weil die Menschen die enormen Qualitäten dieses Konzeptes in der Praxis schnell erkannten und es gar nicht mehr missen möchten. Es gab etliche Stimmen, die sagten, das hätte man schon viel früher machen sollen.“

Mit welchen Argumenten konnten Sie die Entscheider überzeugen?

Mathias Welle: „Entscheidend ist, dass man bei solchen visionären Querdenker-Lösungen das eigentliche Ziel und seine Überzeugungen nicht aus den Augen verlieren darf, trotz aller Widerstände. Die aus einem solchen Konzept resultierenden Vorteile für die Menschen, Vorteile für die Stadt und für ihre nachhaltige Entwicklung – wie enorme Steigerung der Aufenthaltsqualitäten, Reduzierung des Lärmes, Schaffung von angstfreien Räumen, Flanierzonen, Wohlfühlzonen, keine Verbannung der Verkehre, sondern das rücksichtsvolle Miteinander – müssen planerisch, mündlich und schriftlich verständlich erläutert werden.

Die Stadt hat einen 30-seitigen Bericht verfasst mit allen Argumenten. Dieser wurde als Antrag mitsamt den zugehörigen Planungen an das Verkehrsministerium gesandt. Über einen somit erreichten dreijährigen Modellversuch wurde das einwandfreie Funktionieren dieses Konzeptes nachgewiesen, obwohl zunächst einige Vorschriften diesem innovativen und menschenfreundlichen Konzept widersprachen.

Seither erfolgen öffentliche Anerkennungen wie der 1. Staatspreis Baukultur 2016 oder Beispielhaftes Bauen 2020 aufgrund des gesamtheitlichen ,shared space’- Konzeptes, welches für Stadt, Stadtbild und Menschen enorme positive Folgen auslöst.

Die beste Anerkennung ist jedoch, dass alle Menschen diesen Platz akzeptieren und ihn durch ihre Vielzahl – Schwetzingen hat rund 800.000 Tagestouristen im Jahr – mit pulsierendem Leben versehen und dabei alle Verkehre trotzdem fließen – nur eben entschleunigt. Das ist in der heutigen Zeit ein Segen. Im Übrigen hat auch die Gastronomie von diesem innovativen Konzept profitiert: Die Cafés sind prallvoll.“

Welches Potenzial sehen Sie in Baden-Baden, um etwas Ähnliches wie in Schwetzingen zu machen?

Mathias Welle: „Baden-Baden hat ein enormes Potenzial, um ähnliche Qualitäten zu schaffen. Diese Qualitäten fehlen hier an einigen Stellen ganz klar im öffentlichen Raum. Es geht nicht um die Gebäude – die sind hier in hoher Zahl und hoher Qualität vorhanden. Es geht vielmehr um die Vernachlässigung der öffentlichen Räume, die teilweise in erheblichem Widerspruch zur qualitativ hochwertigen Bausubstanz stehen.

Damit gemeint sind Bereiche wie Goetheplatz mit dem Theater, die Fieser-Brücke bis zu den Kolonaden, Bereiche wie Capri, Leopoldplatz, Luisenstraße, Kreutzstrasse, Lichtentaler Strasse bis Bertholdplatz, Augustaplatz, Ludwig-Wilhelm-Platz, Victoria-, Schiller, Ludwig-Wilhelm-Straße und so weiter. Dieser Kernstadtbereich hat das Potenzial, in großen Teilen als ,shared space’-Zonen oder als Begegnungsflächen wunderbar zu funktionieren; mit sehr positiven Effekten für alle.

Wichtig ist hierbei, dass die Menschen intuitiv umdenken: Diesen Impuls muss die Stadtentwicklung setzen mit Visionen, die die Stadt in eine moderne qualitätsvolle Zukunft führen. Baden-Baden gestalten und nicht verwalten: Das muss das Motto der Zukunft sein. Ziele sollten die Steigerung der Aufenthaltsqualitäten sein, Entschleunigung, mehr Achtsamkeit. Aus Baden-Baden eine Wohlfühlstadt zu machen ist das Ziel – mit mehr Lebensqualität im öffentlichen Raum. Ich habe dazu bereits auf FOKUS Baden-Baden Interviews gegeben und öffentliche Vorträge zum Thema Baden-Baden im Mai 2019 bei der Architektenkammer Baden-Baden-Rastatt gehalten sowie im September beim Verein Stadtbild.“

Welche Kriterien spielen künftig eine größere Rolle, was die Gestaltung unserer Innenstadt angeht? Und inwieweit gehen Ihre Ideen darauf ein?

Mathias Welle: „Ich glaube, dass es ein ganzes Konglomerat an Anforderungen gibt, die bei der modernen und vor allem nachhaltigen Stadtentwicklung eine Rolle spielen müssen. Meine Ideen gehen auf sehr viele dieser Aspekte ein. Helle Beläge senken die Oberflächentemperaturen und sind somit gut für das Stadtklima und gut gegen aufgeheizte Innenstädte. Die Reduktion der Geschwindigkeit vermindert deutlich Lärmemissionen des motorisierten Verkehrs und deren Schadstoffabgabe.“

Wie würden Sie Baden-Baden am liebsten umgestalten?

Mathias Welle: „Nun, wir haben eine fantastische Stadt, die man aber stadtentwicklungstechnisch in eine moderne Zukunft führen muss. Wie bereits oben erwähnt, werden die öffentlichen Räume teilweise sträflich vernachlässigt oder – sofern neu gestaltet wie der Leo – erfolgt dies in Beton-Baden Airpark II-Charakter.

Ein weitere wichtiger Aspekt ist die Verhinderung von seelenlosen, austauschbaren Bauträger-Architekturen, Betonkisten mit Löchern drin, die ausschließlich auf Wirtschaftlichkeit getrimmt sind, die der Stadt aber nicht guttun. Im Gegenteil, sie schaden der Stadt und ziehen sie nach unten, sie schaden dem Menschen.

Winston Churchill sagte einmal sinngemäß: ,Zuerst prägt der Mensch den Raum und die Gebäude, dann prägen diese den Menschen.’ Das heißt übersetzt: Wir haben es selbst in der Hand, was aus unserer Stadt wird und deshalb sollten wir schleunigst positive Veränderungen herbeiführen.“

Wie viel Zeit würde man etwa benötigen, um ein einheitliches Gestaltungskonzept umzusetzen?

Mathias Welle: „Nun ja, dazu benötigt man schon – finanztechnisch und bautechnisch schon ein paar Jahre – aber man muss und kann das ja nicht auf einen Schlag tun. Das geht natürlich auch sehr gut abschnittsweise.

Das Wichtigste ist, dass man hierbei nicht klein-klein denkt und kein Stückwerk produziert – leider passiert das bisher viel zu oft. Es muss ein innovatives Gesamtkonzept gedacht und erstellt werden, welches dann abschnittsweise konsequent umgesetzt wird. Dadurch kann in wenigen Jahren behutsam ein ganz neues Stadtbild entstehen. Dies neue Bild ist wichtig für eine menschengerechte Zukunft der Stadt.“

Und zur Finanzierung: Ist das bezahlbar?

Mathias Welle: „Ja, das ist bezahlbar! Hässliche Materialien sind oft genauso teuer wie schöne Materialien, man muss nur die richtige Wahl treffen! Dunkle Straßen kosten Geld, helle Strassen sind nicht teurer. Es ist eine Binsenweisheit, dass Schönes teurer ist, die wahre Frage ist doch, wo die Gewinne beim Einsatz sogenannter preiswerter und billiger Materialien in Wirklichkeit hingehen. Die Stadt hat Verantwortung, für ihre Menschen wohlwollend zu sorgen – und nicht Einzelne oder Firmen durch gnadenlose Wirtschaftlichkeit schnell reich werden zu lassen.“

Fotos: FBB-Archiv