„Viele Menschen landen unverschuldet auf der Straße“
17Dezember
2018
Kein Dach über dem Kopf, dazu vielleicht noch psychische Probleme oder eine Sucht: Christian Frisch betreut seit 20 Jahren Wohnungslose bei der Caritas. Hier gibt er Einblicke, die unter die Haut gehen. Und korrigiert die Zahl der Menschen in Baden-Baden ohne Wohnung nach oben.
Christian Frisch hat Freude an seiner Arbeit. Er knüpft Beziehungen zu Menschen, die keine Familie, keine Freunde und keine Fürsprecher mehr haben. „Ist erst einmal Vertrauen gefasst, kann man so vieles erreichen“, sagt der Fachbereichsleiter Wohnungslosenhilfe. Und fügt hinzu: „Wir sind für viele Menschen in Not eine Ersatzfamilie.“ Zusammen mit drei Kollegen ist er Ansprechpartner, wenn in der Tagesstätte jemand reden möchte und Beratung braucht. „Wir hatten hier schon Menschen zwischen 18 und 80“, erzählt er. Berührungsängste kennt er nicht – warum auch? Er hat viele Schicksale parat, bei denen die bedürftigen Menschen unverschuldet alles verloren haben. Schicksale, die nachdenklich machen.
Wohnungslos, aber nicht im Clochard-Look
Frisch hat tiefe Einblicke in die Gesellschaft: „Der sogenannte Penner, der am Supermarkt sitzt und bettelt, von dem hat man ein Bild: Rauschebart, schmutzige Jacke und Bierflasche am Anschlag. Die meisten, die zu uns kommen, würden Sie auf der Straße nicht als Obdachlose erkennen. Die meisten sind ordentlich angezogen, sie können sich bei uns die Haare schneiden lassen und duschen. Auch eine Ärztin kommt regelmäßig vorbei und behandelt die Gäste der Caritas ehrenamtlich. Dass Menschen kein Dach über dem Kopf haben, sieht man ihnen oftmals nicht mal an. Leider werden es immer mehr. Christian Frisch: „Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose hat Schätzungen, die besagen: 52.000 Menschen leben in Deutschland direkt auf der Straße und 860.000 Wohnungslose gibt es insgesamt.“
Wohnungslos mit Arbeitsvertrag
Zahlen, die beunruhigen. Genauso wie die Wohnungssuche von Menschen, die wieder auf die Füße kommen. Christian Frisch: „Ich kenne jemand, der zwei Jobs angenommen hat, der Flyer verteilt, weil er keine Bleibe findet. Er versucht wirklich alles. Doch er findet einfach keine bezahlbare Wohnung.“ Wohnungslos sein – das passiert auch mit festem Gehalt.
Immer mehr Obdachlose
Kürzlich gab es eine Aktualisierung der Zahlen im Armutsbericht der Stadt Baden-Baden, wir berichteten. Daraus ging hervor: Zwischen 2014 und 2018 ist die Zahl der Menschen ohne feste Bleibe von 137 auf 278 Fälle gestiegen. De facto sind es aber noch mehr, denn: „In dieser Statistik tauchen die Menschen auf, die die Stadt nach einer Polizeiverordnung unterbringt. Und die besagt: Wenn man in einer Notlage ist, niemanden hat, bei dem man bleiben kann und auch kein Geld für eine Bleibe, dann kann man zur Gemeinde gehen und sagen: ,Ich habe alles probiert, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen.’ Dann ist die Gemeinde verpflichtet, jemanden unterzubringen“, erklärt Christian Frisch.
Vierfache Hilfe der Caritas
Seine Arbeit beschäftigt sich mit Menschen, deren Problem nicht allein das fehlende Dach über dem Kopf ist. „Wir von der Caritas bringen die Leute nach der Sozialgesetzgebung unter, nach Paragraph 67 des Sozialgesetzbuchs XII. Dieser sichert Hilfe für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten. Und so betreuen wir in unseren Einrichtungen Menschen mit Suchtproblemen, psychischen Leiden und so weiter. Das Beratungsprogramm ist vielfältig: Es gibt ein Tagescafé in der Ooser Bahnhofstraße, wo sich die Gäste aufhalten können, auch ohne etwas zu konsumieren. Dort können sie sich wärmen. Es wird von Wohnungslosen geleitet. Wer mag, bekommt dort unkompliziert und ohne Termin Beratung von uns. Weiterhin haben wir ein Wohnheim mit 20 Plätzen, in der Nähe des Bahnhofs. Und: Für Menschen, die nach langer Zeit wieder eine Wohnung beziehen, aber die Hilfe brauchen im Alltag oder dabei, um mit der Einsamkeit zurechtzukommen, bieten wir betreutes Wohnen an.“ 2017 nahmen 223 Personen die Beratungsstelle in Anspruch, stationär wurden im vergangenen Jahr insgesamt 181 Personen aufgenommen.
Schicksale, die zu Herzen gehen
Dass Menschen relativ schnell in eine schwierige Situation kommen können, hat Christian Frisch schon oft erlebt: „Eine Frau, die ich einmal betreute, kam jedes Jahr aus dem Norden zum Kur-Urlaub nach Baden-Baden. Dann wurde ihr Mann krank, sie pflegte ihn, er verstarb. Das hat ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie kam nach Baden-Baden, um sich hier das Leben nehmen. Zum Glück suchte sie Hilfe bei einem Pfarrer, der sie zu uns brachte. Wir konnten ihr über unsere Gemeinschaft neuen Mut geben. Sie half im Café mit, fand eine Wohnung, hatte ihre Aufgabe und wusste irgendwann wieder, warum es sich lohnt, zu leben.“
Ein weiteres Beispiel hat er nie vergessen können. „Einmal brachte mir die Polizei einen Obdachlosen in einem erbärmlichen Zustand. Dem Polizisten war die Situation sehr unangenehm. Unter vier Augen vertraute er mir an, dass er den Obdachlosen kenne: Er sei einst Leiter eines Autohauses gewesen – ein fleißiger Mann mit Arbeit, Haus, Familie. Eine Gehirn-OP brachte eine Wesensveränderung: Der Mann begann, alles zu vergessen. Seine Desorientierung führte erst zur Scheidung, am Ende verlor er alles. Er war ein intelligenter Mann gewesen, der völlig unverschuldet in die Situation gerutscht war.“
Es werden immer mehr Bedürftige
Christian Frisch ist ein Mann, der nach vorn schaut. Mit der Unterstützung von Seiten der Stadt ist er zufrieden: „Wir haben aktuell eine gute Zusammenarbeit mit dem Sozialamt. Diese hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Ich habe den Eindruck, man interessiert sich dort heute mehr für die Wohnungslosen als früher, was vielleicht auch mit dem Druck zu tun hat, dass es mehr werden.“ Auch eine engere Zusammenarbeit steht an: Das Sozialamt wünscht sich Unterstützung von der Caritas. Frisch: „Wir wollen die 270 Wohnungslose aus der Statistik kennenlernen.“
Freude über Menschen mit Herz
Wenn Bürger den Wohnungslosen oder der Caritas helfen, freut sich Christian Frisch besonders. „Zu mir kommt kein Bürger, der sich über Wohnungslose beschwert. Vorwürfe gegen die Menschen, die auf der Straße leben, lese ich eher in der Zeitung bei den Leserbriefen. Wen diese Menschen stören, den lade ich ein, gern mal bei uns vorbeizukommen, um sie und uns kennenzulernen. Doch zum Glück erlebe ich Bürger, die sich engagieren oder sich Sorgen machen um Menschen, die im Winter auf einer Bank schlafen, die anrufen und fragen: Da liegt einer, der erfriert gerade, was kann ich machen?“ Seine Schäflein haben auch schon Mut bewiesen, etwa, als vor einiger Zeit am Leo eine Frau von Jugendlichen bedrängt wurde – die von Obdachlosen vertrieben wurden. Christian Frisch erzählt: „Besagte Frau hat dann mit uns Weihnachten verbracht.“
Wer spenden oder helfen möchte, kann sich an die Caritas in Baden-Baden wenden.
Foto: Christian Frisch