„Oft trifft die Not ganz gewöhnliche Bürger“
26Juli
2019
Nicht nur der Armutsbericht der Stadt zeigt: Es gibt viel zu tun im sozialen Bereich. Roland Kaiser, 2. Bürgermeister, stellte sich kurz vor der Sommerpause den Fragen von FOKUS-Chefredakteurin Cornelia Mangelsdorf. Im Interview spricht er über das, was angepackt werden muss.
Herr Kaiser, wie viel Herz hat Baden-Baden für Menschen in Not?
Roland Kaiser: „Menschen mit Herz gibt es in unserer Stadt überdurchschnittlich viele: Es gibt hier eine hohe Spendenbereitschaft – auch von Personen, die öffentlich gar nicht genannt werden wollen. Sie helfen im Stillen, dann, wenn Hilfe schnell und unbürokratisch benötigt wird. Für die strategische Planung brauchen wir aber auch Verstand: Im vergangenen Jahr haben wir das Sozialticket angestoßen, weiterhin Projekte zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit. Nach der Sommerpause wird sich entscheiden, ob es diese auch in den Haushalt 2020/21 schaffen. Dafür brauchen wir eine Mehrheit im Gemeinderat.“
Werden Sie alles umsetzen können, was Ihnen am Herzen liegt?
Roland Kaiser: „Momentan sind wir dabei, abzustimmen, was von Verwaltungsseite eingereicht wird. Es wird nicht alles sein, was wir gern hätten, weil die Ausgaben zu hoch sind gegenüber den Einnahmen. Die Verwaltung muss also abstimmen, mit welcher Prioritätenliste sie in die Gespräche geht.“
Welche sozialen Themen müssen dringend bearbeitet werden?
Roland Kaiser: „Wir haben knapp 5.000 Menschen in Armut beziehungsweise an der Armutsgrenze in unserer Stadt. Diese Zahl ist seit fünf Jahren relativ stabil. Das Ziel muss sein, dass es weniger werden. Dazu kommt, dass wir rund 1.000 Menschen in Unterbeschäftigung haben: Darunter fallen Arbeitslose und Personen, die in vorübergehenden Qualifikationsmaßnahmen stecken. Auch sie sind auf Hilfen angewiesen.
Wir müssen weiterhin den Bildungsstandort sicher machen. Die Sanierung von Schulen und Ergänzungsbauten sind wichtige Punkte, die wir mittelfristig umsetzen müssen. Hier geht es um Räumlichkeiten wie etwa im Gymnasium Hohenbaden, im MLG, aber auch im Schulzentrum in der Weststadt.
Auch brauchen wir mehr Plätze in der ambulanten und stationären Pflege: Das muss vorbereitet werden, und zwar in einer Preisgestaltung, die vernünftig ist. Ab 2025 werden wir den demografischen Wandel deutlich zu spüren bekommen. Pflege, die sich jeder leisten kann, gibt es bei uns so gut wie gar nicht. Hier müssen wir Träger finden und schon jetzt die Weichen stellen, um etwas neue Seniorenheime zu bauen. Dafür gehen leicht mehrere Jahre ins Land. Wir haben den Standort, an dem das DRK bauen wollte – am jetzigen Wohnmobilhafen in der Jagdhausstraße/Wörthstraße – für ein Seniorenheim reserviert und alle Träger angeschrieben in einem Interessenbekundungsverfahren. Bis Ende Juli werden wir eine Rückmeldung haben, wer hier einsteigen will.
Es tut sich aber noch mehr: Aktuell beantragen wir ein Prädikat, um uns familienbewusste Kommune nennen zu dürfen. Dafür müssen wir einen sehr umfangreichen Fragebogen bearbeiten, in dem wir nachweisen müssen, was wir hier für Kinder, Familien oder auch Senioren tun. Erst, wenn man 70 bis 80 Prozent der Kriterien erfüllt, bekommt man diese Auszeichnung. Der Bewerbungsprozess läuft bis Anfang 2020, im nächsten Frühjahr könnten wir es haben. In diesem Zusammenhang kommt alles nochmal auf dem Prüfstand, auch eventuelle Versäumnisse. Dieses Vorhaben ist vor fünf Jahren mal angefangen, aber nie zu Ende gemacht worden. Ich habe es wieder aufgegriffen und erhoffe mir Nachbesserung in den Bereichen, in denen wir nicht gut sind. Was uns definitiv fehlt, sind Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche.
In Sachen Kitas und Krippen entspannt sich die Lage zum Glück langsam etwas: Wir haben einen starken Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten, aber wir sind noch weit weg von Wunsch und Wahlrecht der Eltern, wo ihr Kind betreut werden soll.“
Wo brennt's im sozialen Bereich besonders?
Roland Kaiser: „In der Wohnungslosenhilfe. Es gibt doppelt so viele Menschen ohne festen Wohnsitz als noch vor vier Jahren. Um das zu bekämpfen, brauchen wir verschiedene Maßnahmen, etwa Notunterkünfte und das entsprechende Personal. Damit ist es allerdings nicht getan, jetzt kommen wir an die Schnittstelle Wohnungsbau. Mittelfristig müssen wir erreichen, dass wir eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt bekommen.
Wenn die Stadt bereit wäre, Mietzusagen zu machen, könnte man Wohnungslosigkeit abwenden. Hier haben wir eine befristete Personalstelle geschaffen, die 2018 über 100 Räumungen verhindern konnte. Dort wird individuell geschaut, wie man Menschen in Not helfen kann, es werden etwa vermittelnde Gespräche geführt mit dem Vermieter oder Stromanbieter. So kann die Wohnungslosigkeit oft vermieden werden. Hier waren wir sehr erfolgreich und deshalb möchten wir damit unbedingt weitermachen. Oft trifft das Dilemma ja ganz gewöhnliche Bürger, die etwa nach dem Tod des Partners oder wegen einer schweren Krankheit in Not geraten. In Karlsruhe gibt es ein Modell, in dem die Stadt als Bürge eintritt, bevor jemand auf der Straße landet. Wir sind hier gerade dran, etwas konzeptionell zu erarbeiten. Natürlich wollen wir hier nicht den Eindruck erwecken, ich muss nur in der Stadt anrufen und dann zahlt sie für mich. Wichtig ist, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, um Hilfe zu leisten.“
Sprechen wir über Ihre Vision: Wo soll sich die Stadt hinentwickeln?
Roland Kaiser: „Ich habe Ziele, die ich umsetzen möchte – beim Wort Visionen muss ich die Stirn runzeln. Dinge, die wir begonnen haben, sollten wir stabilisieren: Wir müssen gute Bildungschancen schaffen, außerdem attraktive Wohn- und Arbeitsplätze. Damit die Stadt einerseits eine Topadresse ist für Besucher, aber vor allem auch eine Top-Adresse für Menschen, die hier wohnen möchten.“